09.02.2022, FA Andreas König
Welchen Beweiswert hat eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?
Reicht eine AU-Bescheinigung wirklich als Nachweis für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung gemäß § 3 EntgFG aus?
Diese Frage war zu entscheiden durch das Landesarbeitsgericht Niedersachsen und in letzter Instanz durch das Bundesarbeitsgericht in Erfurt.
Der Sachverhalt:
Ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis selbst gekündigt hat, hat für den Zeitraum der Kündigungsfrist vom Tag der Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei seinem Arbeitgeber vorgelegt. Der Arbeitgeber hat die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit (Erkrankung) des Arbeitnehmers angezweifelt und ging von einer Gefälligkeitsbescheinigung des behandelnden Arztes aus und hat die Entgeltfortzahlung verweigert.
Leider kommen derartige Fallgestaltungen in der Praxis doch häufig vor. Entweder, dass der Arbeitnehmer seine Erkrankung „ankündigt“ oder nach Ablehnung eines Urlaubsantrages für denselben Zeitraum erkrankt, oder wie hier in der Kündigungsfrist erkrankt oder an Brückentagen oder zu Hauptstoßzeiten, z. B. dem Weihnachtsgeschäft. Für den Arbeitgeber ist dies doppelt belastend, denn ihm fehlt nicht nur die Arbeitsleistung, sondern er ist gemäß § 3 EntgFG auch zur Entgeltfortzahlung in Höhe der durchschnittlichen Arbeitsvergütung des Arbeitnehmers (§ 4 EntgFG) verpflichtet. Gerade bei einem wechselwilligen Arbeitnehmer, der selbst das Arbeitsverhältnis kündigt, ist der Unmut mancher Arbeitgeber nachvollziehbar. Im Einklang mit dem EU-Recht und den sich daraus ergebenden Arbeitnehmerschutz-vorschriften ist der Arbeitnehmer aber vor einer „Willkür“ des Arbeitgebers geschützt, weil er durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne des § 5 EntgFG seiner Nachweispflicht nachkommt und Entgeltfortzahlungsanspruch hat.
Wieso kam es dann dennoch zu dem Rechtsstreit beim LAG Niedersachsen und der Entscheidung des BAG vom 08.09.2021?
Die AU-Bescheinigung des behandelnden Arztes attestiert die Einschätzung durch einen Mediziner, dass der Arbeitnehmer für die von ihm vertraglich geschuldete Arbeitsleistung arbeitsunfähig ist. In der Regel wird sich dies auch auf die volle Arbeitszeit, also den gesamten Arbeitstag beziehen. Möglicherweise sind aber Arbeitnehmer für eine zeitlich reduzierte stundenweise Tätigkeit nicht arbeitsunfähig (je nach Krankheitsbild). Möglicherweise kann nach dem Arbeitsvertrag auch ein anderer Einsatz an einem anderen Arbeitsort (keine Fahrwege) oder mit einer anderen Arbeitsaufgabe (keine schwere körperliche Tätigkeit) erfolgen.
Hier steht der Arbeitgeber vor einem Dilemma, denn er darf, bis auf Ausnahmen, den Arbeitnehmer nicht fragen welche Erkrankung er hat und ob er möglicherweise noch zu Teilleistungen in der Lage ist. Dem Arbeitgeber bleibt nur die Möglichkeit, den Arbeitnehmer über den Medizinischen Dienst der Krankenkassen untersuchen zu lassen. Einer entsprechenden Einladung des Medizinischen Dienstes hat der Arbeitnehmer auch Folge zu leisten. Nichterscheinen erschüttert die AU-Bescheinigung. In der Praxis wird von diesem Instrument aber nur sehr selten Gebrauch gemacht. Gleiches gilt für den „Konfrontationskurs“, dass der Arbeitgeber keine Entgeltfortzahlung zahlt und sich verklagen lässt. Da im arbeitsgerichtlichen Verfahren keine Auslagenerstattung erfolgt, ist dieses Vorgehen meistens unwirtschaftlich. Die BAG-Entscheidung vom 08.09.2021 muss an dieser Stelle aber besprochen werden, da sie eine Kursänderung des BAG darstellt und insbesondere für Arbeitnehmer sich zukünftig Nachteile ergeben können, wenn sie die Vorgaben des BAG missachten.
Das BAG hat entschieden, dass der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert werden kann, insbesondere dann, wenn sich die Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit mit der Dauer der Kündigungsfrist deckt.
Heißt dies, dass der Arbeitnehmer zwei Tage vor Ablauf der Kündigungsfrist wieder genesen sein muss? Natürlich nicht. Vielmehr ergibt sich aus den Gründen der Entscheidung des BAG, dass der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert wird, wenn auffällig eine Deckungsgleichheit besteht oder die Verlängerung der AU durch verschiedene Ärzte erfolgt oder der Arbeitnehmer unmittelbar nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses ein neues Arbeitsverhältnis antritt und den Arbeitsvertrag hierfür ggf. schon/noch während seiner Krankheit unterzeichnet hat und „pünktlich“ wieder gesund wird.
In einem etwaigen Rechtsstreit des Arbeitnehmers auf Zahlung der Entgeltfortzahlung oder Feststellung der Unwirksamkeit einer Kündigung findet regelmäßig erst mehrere Wochen, wenn nicht gar Monate nach der AU eine Verhandlung bei Gericht statt. Ein Sachverständiger wird deshalb zu der tatsächlichen AU keine Feststellungen mehr treffen können. Angaben kann bestenfalls der behandelnde Arzt machen. Dieser ist wegen der von ihm gestellten Diagnose immer von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden. Geschieht dies nicht, droht dem Arbeitnehmer deshalb den Rechtsstreit zu verlieren. Die AU-Bescheinigung attestiert nämlich nur in der Regel die AU des Arbeitnehmers und kann durch Indizien erschüttert werden.
Dies führt das BAG in seiner Entscheidung in aller Deutlichkeit aus und gibt dem Arbeitgeber damit „Argumentationshilfe“. Die Entscheidung sollte deshalb sowohl von Arbeitgebern, als auch von Arbeitnehmern beachtet werden.
Die Entscheidung ist frei zugänglich auf der Webseite des Bundesarbeitsgerichts. Urteil vom 08.09.2021, Aktenzeichen 5 AZR 149/21.
AIDA ORGA GmbH - Otto-Lilienthal-Str. 36 - 71034 Böblingen