15.05.2022, FA Andreas König
Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 04.05.2022 eine Grundsatzentscheidung zu obiger Problematik gefällt. Dies war veranlasst, weil der Europäische Gerichtshof mit seinem Urteil vom 14.05.2019, Aktenzeichen C-55/18 die Arbeitgeber der Mitgliedstaaten verpflichtet hat, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen.
In Behörden und öffentlichen Verwaltungen wirkt diese Entscheidung unmittelbar.
Für private Arbeitgeber über die Dokumentationspflicht des § 16 Abs. 2 ArbZG.
Zwischenzeitlich sollten in allen Betrieben, die nicht Kleinbetriebe sind, moderne Zeiterfassungssysteme vorhanden sein. Mit dem Ein- und Ausloggen durch die Mitarbeiter/ Angestellten in einem Zeiterfassungssystem wird die Arbeitszeit erfasst. Diese ist auch zu vergüten.
Problematisch sind in der Hauptsache zwei Fallkonstellationen, das Mehrarbeit geleistet wird, also z. B. 10 Stunden statt 8 kalendertäglich oder eine Pause, die bei einer täglichen Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden gewährt werden muss, nicht genommen wurde und durchgearbeitet wurde.
Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass der Arbeitnehmer, der Vergütung für diese Zeiten beansprucht, die geleistete Arbeitszeit darlegen und die Betriebsnotwendigkeit/die Anordnung von Mehrarbeit im Zweifel auch beweisen muss. Dies geschieht im Rahmen einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast. Dabei wurde insbesondere vom Arbeitnehmer verlangt, dass er die Arbeitszeiten konkret darlegt, also nicht nur: „ich bin eine Stunde länger geblieben“, sondern an welchem Tag mit Beginn und Ende der Arbeitszeit und wer und wann die Stunde Mehrarbeit angeordnet hat. Wenn Mehrarbeit über einen Zeitraum von einem Jahr oder länger geleistet wurde, ergibt sich daraus ein erheblicher Darlegungsaufwand.
Mit der o. g. Entscheidung des EuGH trifft die Arbeitgeber eine entsprechende Dokumentationspflicht. Man könnte deshalb denken, dass es reicht, dass der Arbeitgeber diese Dokumentation dem Gericht vorlegt und der Arbeitnehmer ein entsprechendes Einsicht-/ Auskunftsrecht hat. Dem ist aber nicht so. Die Arbeitgeber argumentieren dagegen mit dem Datenschutz und der Wahrung von Betriebsgeheimnissen und stellen dem Arbeitnehmer die jeweiligen Dateien meist nicht zur Verfügung.
In dem am 04.05.2022 vom Bundesarbeitsgericht entschiedenem Streitfall verlangte der Arbeitnehmer für insgesamt 348 Stunden Mehrarbeitsvergütung in Höhe von 5.222,67 € brutto. Er hat behauptet, dass er Pausen durcharbeiten musste, weil er sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätte abarbeiten können. Dies hatte die Beklagte, ein Einzelhandelsunternehmen, bestritten.
In den Vorinstanzen hat der Arbeitnehmer argumentiert, dass aufgrund der Aufzeichnungspflicht des Arbeitgebers entsprechend des EuGH-Urteils diesem die Darlegungs- und Beweislast im Vergütungsprozess obliegt, denn er habe aufgrund der Zeiterfassung positive Kenntnis von den Arbeitszeiten und könne ihm bekannte Sachverhalte nicht bestreiten. Das erstzuständige Arbeitsgericht Emden hat der Klage vollumfänglich stattgegeben. Auf die Berufung des Unternehmens hat das LAG Niedersachen die Klage im Wesentlichen doch abgewiesen. Die vom Kläger beim BAG erhobene Revision hatte keinen Erfolg.
Das BAG hat an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten, dass dem Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess treffe. Der Arbeitgeber sei zwar dokumentationspflichtig, er müsse die Arbeitszeitnachweise aber im Prozess nur vorlegen, wenn der Arbeitnehmer zunächst die Mehrarbeit konkret dargelegt habe.
Damit setzt sich das BAG scheinbar in Widerspruch zu der Entscheidung des EuGH und auch zu der Rechtsprechung der anglo/amerikanischen Gerichte. Großbritannien ist aber nicht mehr EU-Mitglied und wie die Arbeitsgerichte in den Mitgliedsstaaten entscheiden werden, bleibt abzuwarten. Für die BAG-Entscheidung liegen auch noch nicht die Entscheidungsgründe im Volltext vor. Es bleibt spannend wie das BAG seine Abweichung zur EuGH-Entscheidung begründet. Eine ähnliche Konstellation bestand nach der Entscheidung des EuGH zur Unabdingbarkeit des Jahresurlaubsanspruchs von Arbeitnehmern als das BAG zunächst auch an seiner Rechtsprechung festgehalten hat und nach Ausscheiden des Senatsvorsitzenden sich in den Nullerjahren mit seiner Rechtsprechung dreimal gedreht hat. Der Autor rechnet damit, dass es zu der o. g. Überstundenproblematik auch noch „Bewegung“ in der Rechtsprechung geben wird.
Es sollte deshalb in jedem Unternehmen/öffentlicher Verwaltung in dem es eine Personalvertretung oder einen Betriebsrat gibt, auf eine entsprechende Betriebsvereinbarung nach § 87 BetrVG hingewirkt werden, sofern diese nicht bereits besteht.
Fazit: Mit seiner Entscheidung vom 04.05.2022 ist das BAG von seiner bisherigen Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess nicht abgerückt. Arbeitnehmer sollten sorgsam und detailliert zu den geleisteten Arbeitszeiten und der Betriebsnotwendigkeit von Mehrarbeit vortragen. Arbeitgeber können in Ansehung ihrer Dokumentationspflicht zur Arbeitszeit diesen Vortrag nicht pauschal bestreiten, sondern müssen detailliert darauf eingehen. Es empfiehlt sich dringend Betriebsvereinbarungen/ Dienstvereinbarungen abzuschließen. Das Thema wird mit Sicherheit spannend bleiben.
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